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Beitrag vom 05.01.2005
Hintergrund zum Schwarz-Buch Lidl
AVIVA-Redaktion
Besonders auffällig ist das Klima der Angst, das von den vorgesetzten Lidl-Verkaufsleitern geschürt wird. Weitaus mehr als in anderen Unternehmen ist Angst zentrales Instrument der Personalführung.
Der Autor Andreas Hamann und die Co-Autorin Gudrun Giese haben die letzten Monate mit über Hundert Beschäftigten Gespräche geführt bzw. Informationen erhalten. Unter den Gesprächspartnern waren Lidl-Beschäftigte, aber auch ehemalige Lidl-Mitarbeiter/innen sowie weitere Betroffene aus dem Handelskonzern Schwarz mit seiner Kaufhauskette Kaufland/Handelshof. Die Erkenntnisse werden ergänzt durch Berichte von Filialbesuchen und Beschäftigtenkontakte von ver.di, die in den vergangenen Monaten bundesweit gesammelt wurden. Zusammengerechnet ergibt sich das im Schwarz-Buch gezeichnete Bild aus Erfahrungsberichten aus mehr als 250 Lidl - Filialen in verschiedenen Teilen Deutschlands.
Wirtschaftliche Daten und Unternehmensangaben konnten bislang nur geschätzt werden. Der Schwarz-Konzern hat bis heute Informationen und Gespräche beinahe durchgängig verweigert. Bilanzen oder Jahresabschlüsse wurden bislang nicht offengelegt. Im Zuge der Aktivitäten von ver.di gab der Konzern vor wenigen Tagen erstmalig Zahlen bekannt und nimmt zu den ver.di - Vorwürfen Stellung.
Vorwürfe von ver.di:
Bespitzelung, Arbeitshetze, zum Teil unbezahlte Arbeitszeit vor und nach den Öffnungszeiten sowie gravierende Mängel im Gesundheitsschutz gehören für die rund 30.000 Beschäftigten zum Arbeitsalltag bei Lidl.
Bespitzelung und Kontrollen
Die Bespitzelung bei so genannten Spätkontrollen, die nach Lidl-internen Vorgaben mindestens einmal in der Woche stattfinden sollen und bei denen sogar die PKW´s der Beschäftigten kontrolliert werden, stellt sämtliche Lidl-Beschäftigte ständig unter einen generellen Diebstahlsverdacht. Gängig sind Durchsuchungen des Spindes, Durchsuchungen der Kittel und der privaten Taschen. In den Filialen werden immer wieder Videokameras ohne Wissen der Beschäftigten zum Zweck der Mitarbeiterüberwachung eingerichtet. Werden Beschäftigte krank, sind Kontrollanrufe und sogar Besuche von Vorgesetzten keine Seltenheit.
Gnadenlose Arbeitshetze und Leistungsdruck
Auffällig ist die gnadenlose Arbeitshetze an den Kassen und bei der Verräumung von Waren. Die Beschäftigten erhalten strenge Leistungsvorgaben und werden dabei regelmäßig kontrolliert. Bei Lidl wurde in all den Gesprächen niemand gefunden, der/die seine/ihre Pausenzeiten richtig in Anspruch nehmen kann. Schon ein kurzer Gang zur Toilette ist z. B. für viele Kassiererinnen Luxus, den sie sich wegen des Arbeitspensums von mindestens 40 Scann-Vorgängen pro Minute und des Drucks bei Nichterreichen kaum leisten.
Unbezahlte Mehrarbeit ist bei Lidl vor und nach der Ladenöffnung verbreitet, obwohl es von Zeit zu Zeit Anweisungen gibt, alle Überstunden aufzuschreiben. Oft erreichen die Filialbelegschaften inklusive Filialleitung die Leistungsvorgaben mit der vorhandenen Zeit nicht und bleiben lieber länger, bevor sie Abmahnungen oder Druck in anderer Form erwarten müssen. Nach ver.dis Erkenntnissen ist unbezahlte Mehrarbeit keinesfalls eine Ausnahmeerscheinung.
Kurzfristige Arbeitseinsätze und Änderungen im Einsatzplan sind wegen chronischer Unterbesetzung an der Tagesordnung. Anwesenheit bis in die späten Abendstunden hinein, um den Laden zu säubern oder Aktionsware aufzubauen sowie Anrufe an Freizeittagen oder im Urlaub, mit der Aufforderung kurzfristig einzuspringen, belasten vor allem Frauen mit Familie und Kindern zusätzlich.
Austausch von Stammpersonal gegen billige Arbeitskräfte
Besonders auffällig ist, dass langjährige Beschäftigte offenbar systematisch herausgedrängt werden, weil sie zu teuer geworden sind und durch billigeres Personal, vor allem ungelernte Teilzeitkräfte und in Mini-Jobsbeschäftigten, ersetzt werden. Dabei arbeitet das Unternehmen bevorzugt mit gezielten Testkäufen, Versetzungen in weit entfernte Filialen oder Mobbing, um Betroffene dazu zu bringen, ihre Tätigkeit aufzugeben.
Verhinderung von Betriebsräten
Die von Lidl wohl absichtlich unüberschaubar gehaltene Struktur des Unternehmens erschwert bei mehr als 600 verschiedenen Gesellschaften die Bildung von Betriebsräten, Jugend- und Auszubildendenvertretungen sowie die Vertretung von Schwerbehinderten enorm. Drohungen, Personal auszutauschen oder zu entlassen, falls es die Bereitschaft gäbe, einen Betriebsrat zu gründen, sind bei Lidl offenbar gang und gäbe. Ein anderer Trick des Unternehmens, starke Interessenvertretungen zu verhindern, ist die unternehmensrechtliche Ausgliederung von Filialen. So verhindert Lidl, dass Beschäftigte einer regionalen Niederlassung gemeinsame Betriebsräte für alle Filialen, das regionale Lager und dessen Verwaltung wählen können. Im Schwarz-Buch Lidl wird dazu das Lehrbeispiel Unna in Nordrhein-Westfalen vorgestellt.
Aufhebungsverträge und Eigenkündigungen
Im gesamten Bundesgebiet gibt es Beispiele von Eigenkündigungen nach Gesprächen, in denen die Betroffenen unter großem Druck entweder Aufhebungsverträge oder Eigenkündigungen unterschrieben. Häufig handelt es sich um für Lidl offenbar zu teure Beschäftigte, doch gibt es weitere Gemeinsamkeiten: viele der Beschäftigten sind unbequem geworden, weil sie sich für die Bezahlung von Überstunden, faire Behandlung und Respekt von Vorgesetzten oder andere Selbstverständlichkeiten eingesetzt haben.
Viele der Betroffenen bekommen, wenn sie klagen, im Nachhinein vor dem Arbeitsgericht Recht. Fristlose Kündigungen werden in fristgerechte umgewandelt, Abfindungen werden gezahlt. Es gibt sogar Entscheidungen, die die Rückkehr in den Discounter möglich machen würden. Davon wird bisher, ohne den Schutz durch Betriebsräte in den Filialen, aber kaum Gebrauch gemacht. Zu groß sind die Diffamierungen und der Druck, solange die Beschäftigten alleine gegenüber ihren Vorgesetzten stehen.
Quelle: ver.di